St. Ursula-Schule Hannover

Ein Schulbuch erzählt….

Vor nicht allzu langer Zeit war ich in der sogenannten Erdkundebibliothek unterwegs. Dieser Raum ist nicht unbedingt jedem Schüler bekannt, er befindet sich im A-Gebäude im Stockwerk über der neuen Kapelle gleich neben dem Französisch-Raum. Seine offizielle Bezeichnung (die nicht einmal an der Türe angebracht ist) lautet A302.

Ich schaute mich also in diesem Raum um, der allerlei Kuriositäten aus dem geogeographischen Schulalltag beinhaltet. Alte Steinsammlungen, alte Modelle von Vulkanen und Tektonik und vieles mehr. In einem Regalfach fand ich ein altes Erkunde-Buch. Sein martialischer Titel „Vaterländische Erdkunde nebst Deutschen Kolonien“ ließ mich stutzen und so nahm ich es zur Hand um es genauer zu betrachten. Was ich in diesem Buch fand, war für mich so interessant, dass ich es mit nachhause nahm und versuchte die Geschichte des Schulbuches an unserer Schule zu rekonstruieren…

Das Buch wurde 1911 von Heinrich Harms verfasst, erschien im List & von Bressensdorf-Verlag und war, wie man dem Titel schon entnehmen kann, ein Kind seiner Zeit. Der Autor Harms (1861-1933) war dabei ein angesehener Geograph und ein bekannter Schulbuchautor, bis heute sind nach ihm in Deutschland einige Schulen benannt. Doch auch er konnte sich den patriotisch-nationalen Geist des Kaiserreiches nicht verschließen.

Dies wird gleich auf den ersten Seiten deutlich, in denen Deutschlands Platz in der Welt sehr detailreich geschildert wird – nicht etwa in einem heutigen geographischen Sinn, sondern eher im Hinblick auf militärisches Verteidiungspotential:

„…Durch diese (gemeint ist die sog. Burgundische Pforte an Westgrenze des Deutschen Reiches) sollte 1871 der Feind in Deutschland einbrechen, doch wurde dieser verhängnisvolle Plan durch den heldenvollen Widerstand der deutschen Truppen, die 43.000 Mann stark, den Anprall von 150.000 Franzosen aushielten, glücklich vereitelt“

So etwas findet man in den heutigen Erdkundewerken bestimmt nicht mehr, beschreibt aber sehr gut, welchem Zweck der Geographie-Unterricht damals diente: der frühmilitärischen Erziehung.

Aber zu diesem Zeitpunkt wurde das Buch nicht in der St. Ursula eingeführt. Gemäß der Buchwidmung bekam es eine junge Dame namens „Jule“ zu Weihnachten 1913. Es befand sich also zunächst jahrelang in Privatbesitz. Es ist anzunehmen, dass die junge Besitzerin eine Schülerin der Schule war und es später der Schulbibliothek schenkte. Sie war nachweislich nicht unter den ersten Abiturientinnen an der St. Ursula des Schuljahres 1928/29 -  laut des Schulstempels (siehe Foto) fand das Buch eben zu dieser Zeit seinen Weg an unsere Schule als dieses schon Oberlyzeum war, also nach 1928  – dies deckt sich auch mit der ersten Eintragung in der Registrierkarte dieses Buches (siehe Foto). Hier verwundert es schon, dass ein derart nationalistisches Buch aus der Vorkriegszeit plötzlich Verwendung findet in der Zeit der scheinbar so demokratischen Weimarer Republik.

Das Erdkundebuch war also von 1928 im Bestand der Schule St. Ursula bei der Clemenskirche. Wie die Jahreschroniken von 1911 bis 1928 zeigen, war dieses Buch jedoch nie ein offizielles Schulbuch, sondern fand nur Verwendung in der Lehrerbibliothek. Dort wurde es regelmäßig (laut Registrierkarte) gebraucht bis die Ursulinen vor den Nationalsozialisten fliehen mussten und die Schule geschlossen wurde.

Dann gibt es mehrere Möglichkeiten der weiteren Geschichte – entweder wurde unser Erdkundebuch mit weiteren wichtigen Unterlagen und Schularchivalien durch den Ursulinischen Orden ausgelagert – wohin auch immer, wahrscheinlich war es Duderstadt oder sogar ins Ausland. Oder das Buch verblieb in einem Archiv der Clemenskirche, etwa auch im Keller des Schulgebäudes. Dort hat es sowohl den verheerenden Bombenangriff auf Hannover 1943 überlebt als auch das Ende des Krieges.

Als die Schule 1947 wiedergegründet und dann in der Simrockstraße gebaut wurde, scheint unser Buch wieder mit eingezogen zu sein. Dies zeigt der neue Schulstempel auf der ersten Seite – die zurückkehrenden Ursulinen nahmen das Buch wieder in ihre Hausbibliothek auf. Diese befand sich zu dieser Zeit im Konvent unserer Schule.

Auch in der neu entstehenden Bundesrepublik schien sich niemand an seinem vermeintlich undemokratischen Inhalt und nationalistischen Titel gestört zu haben – es war laut Registrierkarte bis 1951 im Gebrauch verschiedener „Leser“. Ob diese das Buch als „historisches“ Lehrwerk gebrauchten oder tatsächlichen geographischen Nutzen daraus zogen bleibt ungewiss.

In den 50ern wird es ruhig um unser Buch – offiziell wurde es nun überhaupt nicht mehr entliehen, vielleicht gab es noch verschiedene undokumentierte Nutzungen.

Als ein halbes Jahrhundert später die Nonnen den Konvent räumten, entstand die heutige Erdkundebibliothek und unser Buch wurde nicht weggeworfen, sondern landete in einem Schränkchen im Erdkunderaum unterm Dach des A-Gebäudes.

Dort schließlich fand ich es an einem langen Elternsprechtag…

 

Oliver Miller